Die Zeiten billigen Geldes sind vorbei – und mit ihnen die großzügige Kreditvergabe der Banken. Angesichts steigender Zinsen und strengerer Finanzierungsbedingungen wird das Liquiditätsmanagement für Unternehmen zur Überlebensfrage, wie zuletzt während der Finanz- und Eurokrise. Doch eine Generation junger Manager steht vor einer harten Realität: Viele kennen striktes Working Capital Management nur aus dem Hörsaal. Gleichzeitig sitzen Firmen auf hohen Beständen, die sie in den letzten Jahren während Lieferkettenproblemen und Produktionsstaus vorsorglich angehäuft haben. Der Abbau gestaltet sich schwierig, während gleichzeitig die Angst vor Versorgungsengpässen hemmt. Umso dringlicher ist jetzt ein ganzheitlicher Ansatz, der Forderungen, Bestände und Verbindlichkeiten verzahnt. Der Paradigmenwechsel erfordert eine neue „Cash-Kultur“, die neben Umsatz und Gewinn auch den Cashflow als Steuerungsgröße etabliert.
Angesichts rapide wachsender Insolvenzzahlen – um 20 Prozent allein in diesem Jahr – und einer bevorstehenden „Maturity Wall“, also einer große Menge an Schulden, die in einem kurzen Zeitraum fällig wird und refinanziert werden muss, stehen Unternehmen vor immensen Herausforderungen. „In den Jahren 2025 und 2026 werden die Fälligkeiten von High-Yield-Anleihen ein Rekordniveau erreichen, was Refinanzierungen deutlich erschwert“, erklärt Nils Kuhlwein, Partner bei der Unternehmensberatung Kearney. Auch wenn der Zinsdruck zuletzt etwas abgeflacht ist – die EZB senkte den Leitzins von 4,75 auf 3,5 Prozent – müssen Firmen mit deutlich höheren Refinanzierungskosten rechnen. Dies zwingt viele Unternehmen, durch gezielte Liquiditätsoptimierungen den externen Finanzierungsbedarf zu verringern. Nach über einem Jahrzehnt, in dem Wachstum und Ertrag im Vordergrund standen, rückt das Thema Cash nun erstmals wieder in den Fokus der Unternehmensführung. Viele vor allem junge Manager haben bislang keinen derartigen Liquiditätsdruck erlebt und sehen sich nun gezwungen, eine Cash-Strategie zu etablieren, die sie so gar nicht kennen. Überbestände, die etwa während der Halbleiterkrise aufgebaut wurden, stellen weitere Hürden dar, da sie nur langsam abgebaut werden können. „Um den finanziellen Herausforderungen zu begegnen, ist ein umfassendes Liquiditätsmanagement erforderlich, das Forderungen, Bestände und Verbindlichkeiten integriert und über eine bloße Auseinandersetzung mit Zahlungsbedingungen hinausgeht“, so Kuhlwein. Unternehmen müssen sich auf einen Paradigmenwechsel einstellen, bei dem Umsatz, Ergebnis und Cashflow gleichwertig parallel gesteuert werden.
Ein Problem, das alle betrifft
Grundsätzlich ist das Thema Liquidität eine Problematik, die alle Unternehmen im aktuellen Zinsumfeld betrifft. Ausgewählte Branchen wie etwa Bau oder Automobil trifft es allerdings besonders, da Banken hier aufgrund der allgemeinen Marktsituation in diesen Branchen häufig nur zaghaft und selektiv refinanzieren. „Obwohl die Chancen und Hebel, um die eigene Liquidität zu verbessern sehr auf die individuelle Ausganssituation ankommen, sollten Unternehmen in erster Linie Überbestände aber eben auch Forderungen und Verbindlichkeiten optimieren“, so Kuhlwein. Bestände bieten sich für die Optimierung an, da sie nicht nur viel Kapital binden, sondern häufig auch aus eigenständigem Tun reduziert werden können – wie zum Beispiel durch bessere Planung und effizientere Abläufe. Anders als bei den Forderungen und Verbindlichkeiten braucht es für die Optimierung hier in der Regel kein Zutun von außenstehenden Dritten. Bei Beständen haben viele Unternehmen in den letzten Jahren eine Pendelbewegung erlebt: „Nach COVID stellten sich zunächst Lieferengpässe ein, weil in einigen Branchen der Aufschwung viel stärker als geplant kam, das betraf insbesondere Halbleiter. Zudem waren häufig die Lieferketten gestört, was zu leeren Lagern und Lieferengpässen geführt hat. Die Unternehmen haben oft genug darauf reagiert, indem sie Überbestände aufgebaut haben, die sich nun nur schwer wieder abbauen lassen, erklärt Kuhlwein. Aber Potentiale seien auch bei Forderungen und Verbindlichkeiten zu heben, indem zum Beispiel Zahlungsbedingungen angepasst und Prozesse verbessert werden, und häufig genug besteht ein erhebliches Potential darin, pragmatisch überfällige Forderungen konsequent einzutreiben. Unternehmen sollten daher ganzheitlich denken und alle Optimierungshebel in allen Bereichen des Working Capitals angehen.
Jede Geschäftsentscheidung hat Auswirkungen auf die Liquidität
Der erste und wichtigste Schritt sei dabei laut Kuhlwein die Verankerung des Bewusstseins, dass nahezu alle Geschäftsentscheidungen auch eine Cash-Komponente mit sich tragen, und dass Cash wieder Geld kostet: „Die größten Herausforderungen im modernen Unternehmensmanagement liegen in der Balance von Trade-Offs, denn jede Geschäftsentscheidung hat Auswirkungen auf Cash, EBIT (Earnings Before Interest and Taxes) und Umsatz.“ Gerade in Zeiten, in denen Liquidität wieder Kosten verursacht, sei es entscheidend, die richtigen Prioritäten zu setzen. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit Kundenreklamationen: Sollte man dem Kunden bei einer berechtigten Beanstandung einen Preisnachlass von drei Prozent gewähren, um im Gegenzug eine sofortige Zahlung der restlichen Rechnung zu erzielen? Oder ist es sinnvoller, den Zahlungseingang aufzuschieben, bis der Mangel vollständig behoben ist? Die richtige Abwägung zwischen kurzfristigem Cashflow und längerfristigen Erträgen ist entscheidend – aber nicht immer eindeutig.
Liquidität benötigt alle Hebel
Dabei sind üblicherweise auch nicht nur vertragliche Zahlungsbedingungen zu betrachten, sondern ein ganzheitliches Vorgehen ist gefragt. „Es müssen alle kommerziellen, strukturellen, organisatorischen und prozessualen Hebel berücksichtigt werden, wie etwa die Nachverhandlung von Zahlungszielen, die Re-Organisation von Lagerstandorten sowie die Optimierung von Freigaben, Verantwortlichkeiten und Reportings. Ebenso wie die Anpassung des gesamten Workflow von der Auslieferung, über den Lieferschein zur Rechnungstellung“, so Kuhlwein. Was für das Working Capital gilt, gilt dabei ebenso für die Investitionen. In Zeiten knappen und teuren Geldes kommt es entscheidend darauf an, die Investitionen langfristig an das Cashflow Potential zu binden. Dies erfordert wie auch bei Working Capital eine ausreichende Transparenz, eine konsistente Planung, eine unternehmensinterne Kultur, die Cash-EBIT und Umsatz richtig ausbalanciert und effektive Prozesse in der Ausführung.
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