Hunderte unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Deutschland haben keinen gesetzlichen Vormund. Das zeigt eine Abfrage des NDR Politikmagazins Panorama 3 bei allen bundesweit zuständigen Ministerien. Anders als gesetzlich vorgeschrieben, haben sie dadurch keinen Ansprechpartner, der ihre Interessen vertreten kann. Von den Behörden allein gelassen, besteht das Risiko, dass sie sich andernorts Halt suchen.
Zum Zeitpunkt der Abfrage, vor einigen Wochen, waren beispielsweise in Hamburg rund 200 geflüchtete Kinder und Jugendliche ohne Vormund. In Baden-Württemberg waren es fast 400 und in Berlin 900.
Kinder und Jugendliche genießen in Deutschland eigentlich einen besonderen rechtlichen Schutzstatus – unabhängig von ihrer Herkunft. Doch vielerorts erhalten geflüchtete Kinder und Jugendliche nicht die Betreuung, die ihnen rechtlich zusteht.
„Das bedeutet, dass Kinder über ein Jahr warten müssen, bis sie überhaupt in die Schule kommen. Das Recht auf Schutz, auf Eltern, auf Privatsphäre, das wird hier unterlassen. Es gibt keine rechtliche Vertretung für die Kinder. Die Liste der Probleme ist sehr lang“, beschreibt Daniel Jasch von der Berliner Fachstelle für minderjährige Geflüchtete die Situation.
Das widerspricht dem üblichen Vorgehen: Wenn unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Deutschland ankommen, werden sie durch ein zuständiges Jugendamt vorläufig in Obhut genommen. Dort bekommen sie einen Vormund, der bis zu ihrem 18. Geburtstag die gesetzliche Vertretungs- und Betreuungsperson wird. Oft ist das ein Amtsvormund. Die Amtsvormünder sollen eine reguläre Unterkunft für die Jugendlichen finden und einen Schulplatz. Ihre Aufgabe ist es auch, Asylanträge zu stellen und in ärztliche Untersuchungen einzuwilligen.
Gegenüber Panorama 3 berichten Amtsvormünder von zahlreichen Missständen und von dauerhafter Überlastung. Ein Amtsvormund der Hamburger Sozialbehörde spricht von unhaltbaren Zuständen: „Normalerweise ist es so, dass wir unsere Jugendlichen einmal im Monat sehen sollten. Wir sollten eine Beziehung aufbauen. Aber aufgrund der Situation, wie es hier gerade in Hamburg ist, ist das überhaupt nicht möglich. Wir machen nur noch Krisenarbeit.“ Ihre Mündel sehe sie nur drei bis vier Mal im Jahr. Diese Zahl bestätigt auch die Hamburger Sozialbehörde. Dabei schreibt das Gesetz ein Treffen pro Monat vor.
Wenn es den Behörden nicht gelinge, sich gut um die Jugendlichen zu kümmern, bestünde die Gefahr, dass sie sich andere Ansprechpartner suchen, sagt der Amtsvormund. „Dann wenden sie sich von uns ab und wenden sich dahin, wo sie gesehen werden. Und das sind dann natürlich meistens Menschen, die nichts Gutes mit ihnen im Schilde führen.“
Allein der Umstand, dass nicht jeder Jugendliche einen Amtsvormund habe, der die Interessen wirklich so vertrete, wie es das Gesetz vorsehe, sei für ihn „eine Kindeswohlgefährdung“, so der Vormund aus Hamburg. Die Hamburger Sozialbehörde teilt dazu mit: Man setze auch für Jugendliche ohne Vormund „den Schutzanspruch konsequent um.“
Die Überlastung der Amtsvormünder ist ein bundesweites Problem. Vielerorts arbeiten Amtsvormünder von geflüchteten Kindern und Jugendlichen mit der gesetzlichen Höchstgrenze von 50 Jugendlichen pro Vormund. Zusätzlich müssen sie sich noch um die Jugendlichen kümmern, denen mangels Personals kein Vormund zugeteilt werden konnte.
Offenbar werden unbegleitete minderjährige Geflüchtete bereits seit 2022 nicht so betreut, wie es gesetzlich vorgesehen ist. Hintergrund ist, dass viele Bundesländer damals angesichts gestiegener Flüchtlingszahlen neue Regelungen erlassen hatten. Diese erlauben es, von den geltenden rechtlichen Standards für die Unterbringung und Betreuung abzuweichen. So dürfen etwa in Niedersachsen, Thüringen und Sachsen Jugendliche bereits im Alter von 16 Jahren in Sammelunterkünften mit Erwachsenen untergebracht werden. Andernorts wurden Betreuungsschlüssel oder Standards für Unterkünfte herabgesenkt, wie etwa die Raumgröße. Diese Absenkungen betreffen nur Geflüchtete, nicht aber in Deutschland aufgewachsene Jugendliche.
Vonseiten der Länder heißt es bereits in den erlassenen Regelungen, all das geschehe immer mit Blick auf das Kindeswohl. Die Maßnahmen seien „temporär“ und eine Reaktion auf die gestiegenen Flüchtlingszahlen bei gleichzeitig existierendem Fachkräftemangel.
Sendehinweis: Mehr zu dieser Recherche am Dienstag 27. August, um 21:15 Uhr im NDR Fernsehen und im Anschluss in der ARD Mediathek.
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