Der Überraschungsangriff der radikalislamischen Hamas auf Israel in den Morgenstunden des 7. Oktober 2023 war beispiellos. Und was ihm folgte, war es auch. Die unglaubliche Brutalität und Grausamkeit, mit der die Terroristen das Massaker verübten, vergewaltigten, Menschen verschleppten, ist auch ein Jahr danach nicht fassbar. Noch immer sind mehr als 100 Israelis in den Händen ihrer Entführer. Ob sie noch leben? Der Tag hat sich eingebrannt in das kollektive Gedächtnis Israels und markiert eine Zeitenwende – nach innen wie nach außen.
Israel kämpft heute an vielen Fronten gegen die Bedrohung seiner Existenz und nimmt dabei die vielen zivilen Opfer im Westjordanland, im Gazastreifen und im Libanon in Kauf. Das ist furchtbar, zumal nicht erkennbar ist, wie das Blutvergießen, wie dieser Krieg beendet werden kann. Es gibt nicht einmal einen Ansatz für eine politische Lösung. Es ist eher zu befürchten, dass der Krieg weiter eskaliert. Die Antwort Israels auf den Angriff des Iran steht noch aus. Sie wird kommen. Und das ist eine Tragödie.
Diese düstere Bestandsaufnahme ist wichtig, um den Blick nach Deutschland wenden zu können. Der Schock nach dem Überfall scheint hierzulande schon nach einem Jahr Geschichte zu sein. Das Mitgefühl mit den Menschen in Israel ist kaum noch spürbar. Es scheint vom Entsetzen über das rücksichtslose Vorgehen der israelischen Regierung ersetzt worden zu sein. Offenbar nicht einmal US-Präsident Joe Biden kann den israelischen Regierungschef stoppen oder mäßigen. So viele unschuldige Menschen sind tot. Das kann, das darf nicht so weitergehen.
Doch bei allem verständlichen Protest gegen das Vorgehen der israelischen Regierung: Was sich vielerorts auf deutschen Straßen abspielt, ist nicht hinnehmbar. Der Hass auf Juden, auf alles Jüdische, auf Israel, der oft als Kritik an Regierungschef Netanjahu verkleidet ist und als „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“ daherkommt, ist unerträglich.
Antisemitische Vorfälle in Deutschland sind seit dem 7. Oktober 2023 stark angestiegen. Die Angst vieler Jüdinnen und Juden auch. Viele trauen sich mit Kippa nicht mehr aus dem Haus, sie tarnen sie mit einer Baseballkappe. Eltern verbieten ihren Kindern, Hebräisch zu sprechen, wenn sie draußen sind. Stolpersteine werden aus der Erde gerissen, Brandsätze gegen Synagogen geworfen. Jüdische Künstler werden nicht mehr zu Veranstaltungen eingeladen.
Einzelfälle? Längst nicht mehr. Man erwischt sich ja selbst bei dem Gedanken, dem alten Freund raten zu wollen, seinen Israel-Aufkleber von der Heckscheibe seines Autos zu knibbeln, wenn er in die Stadt kommt. Doch mit dem Hass in unserer Gesellschaft dürfen wir uns nicht abfinden. Deutschland ist nicht wie Frankreich oder die Niederlande.
Deutschland hat mit dem Holocaust eine sehr schwere Schuld auf sich geladen, die nicht verjähren kann und darf. Jeder, der hier geboren ist, jeder, der entschieden hat, hier zu leben oder zu studieren, jeder, der hier in Zukunft leben möchte, muss sich klar darüber sein, dass aus dieser Schuld eine historische Verantwortung erwächst, die man nicht ablegen kann wie ein Paar alter Schuhe. Diese Verantwortung ist kein Geschichtsblabla. Sie ist ein ganz wesentlicher Teil des demokratischen Nachkriegsdeutschlands, des deutschen Selbstverständnisses.
Wer nach Deutschland kommt und hier bleiben will, muss das wissen. Aber es muss auch eingefordert werden – auch wenn es schwierig wird.
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