„Inflection point“, zu Deutsch: Wendepunkt, ist eine von Joe Biden häufig benutzte Vokabel. Damit versucht der älteste Präsident, den die Vereinigten Staaten von Amerika je hatten, die gefährliche Dimension zu verdeutlichen, die ein Wahlsieg des Möchtegern-Diktators Donald Trump im November für das Land bedeuten würde. Das ist uneingeschränkt richtig.
Am Donnerstagabend geriet der 81-Jährige vor den Augen der Welt-Öffentlichkeit selbst an einen Wendepunkt. Einer, von dem es ab jetzt nur steiler und hässlicher bergab gehen wird, wenn Biden nicht zur Räson kommt, seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen im November zurückzieht und den geordneten Weg freimacht für eine seit Langem überfällige Verjüngung.
Steiler und hässlicher, weil in den nächsten Tagen immer mehr demokratische Parlamentarier und Geldgeber den Daumen senken werden. Weil noch mehr unvorteilhafte Details über die Alterserscheinungen von „Potus“ aus dem Weißen Haus durchsickern werden. Weil die Hatz vieler Medien, die seit dem TV-Duell Bidens „Kopf“ fordern, noch schriller werden wird. Weil die Durchhalteparolen und Treueschwüre von Partei-Freunden schleichend verstummen werden.
Der Grund dafür sind nicht die bizarren Namens-Verwechslungen (Trump statt Harris, Putin statt Selenskyj), die sich Biden auf dem Nato-Gipfel geleistet hat. Sie bestätigen nur, was offenkundig ist. Der verdienstvollste und vielleicht empathischste Präsident, den Amerika in den vergangenen 40 Jahren hatte, besitzt nicht das Rüstzeug, um die Supermacht weitere vier Jahre unfallfrei zu führen.
Nehmt mich nicht beim oft verschluckten, verwechselten oder vergessenen Wort. Schaut darauf, was herauskommt für euch; wirtschaftlich, gesellschafts- und sicherheitspolitisch: Diese an das Wahlvolk gerichtete Strategie, mit der Joe Biden die fundamentale Vertrauenskrise über seine mentale Leistungsfähigkeit überwinden will, funktioniert nicht. Man kann nicht ungesehen machen, was alle gesehen haben: Ein Präsident, der sich nicht beständig gut und verständlich „verkaufen“ kann, verzwergt und macht sich überflüssig.
Selbst wenn ihm ein Comeback gelingen sollte, wenn er Auftritte ohne Teleprompter bis dahin meistert und Donald Trump im November ein zweites Mal knapp schlagen würde: Die Zeit läuft unerbittlich gegen Joe Biden. Er wäre 86 am Ende der zweiten Amtszeit. Seit seiner Wahl 2020 hat er enorm nachgelassen. Ausfall-Erscheinungen werden weiter zunehmen. Er wird zur Belastung für Amt, Partei und Land. Ein Sieg Bidens, so sehr es gegen den Autokraten Trump helfen würde, vertagt das Problem nur. Er ist zu alt für den anspruchsvollsten Job der Welt.
Ob unbeabsichtigt oder nicht: Joe Biden hat den Demokraten nach dem Nato-Gipfel eine Tür geöffnet. Sagen seriöse Umfragen, dass er keine Sieg-Chance gegen Trump hat, ist er zur Aufgabe bereit. Die Anzeichen dafür mehren sich. 80 Prozent der Amerikaner wollen den Demokraten nicht mehr an der Spitze.
Wenn jetzt Partei-Größen wie Obama, Pelosi, Schumer und Clinton diskret und mit Anstand ihren Job machten, könnte ein Szenario gelingen, das Amerika und die Welt elektrisieren würde: eine Rede an die Nation zur besten Sendezeit. Ein ehrenvoller Rückzug. Die Öffnung des Parteitages in Chicago im August für eine jüngere Alternative. Für Wechselwähler eine Wohltat. Für Donald Trump eine Horrorvorstellung. Für Amerika vielleicht die Erlösung.
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