Mehr F&E für EU-Mitglieder der Region notwendig; ausländisches Know-how und Aufbau industrieller Cluster bei Hochtechnologien entscheidend; Irland und Singapur als Vorbilder
Die ostmitteleuropäischen EU-Mitglieder (EU-CEE) Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Rumänien, Bulgarien, Estland, Lettland und Litauen haben seit den frühen 2000er-Jahren einen beeindruckenden ökonomischen Aufholprozess hingelegt. Das bisherige Erfolgsmodell, als „verlängerte Werkbank“ westlicher Konzerne arbeitsintensive Produktionsschritte zu übernehmen, stößt aber zunehmend an seine Grenzen. Zu dieser Schlussfolgerung kam das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) 2021 in einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung. In einer 2023 veröffentlichten Folgestudie hat das wiiw daher untersucht, was den Staaten der Region dabei helfen könnte, dieser „Middle Income Trap“ zu entkommen. Fazit: Die EU-CEE-Länder brauchen eine neue Industriepolitik, die diesen Namen auch verdient. „Das verdeutlicht auch der kürzlich erschienene Bericht des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Draghi mahnt darin zurecht eine europäische Industriepolitik und massive Investitionen in Schlüsseltechnologien an“, sagt Zuzana Zavarská, Ökonomin am wiiw und Co-Autorin einer neuen Studie zum Thema.
Gelingen kann eine europäisch koordinierte und auf die spezifischen Bedürfnisse und Stärken des jeweiligen Landes ausgerichtete Industriepolitik aber nur mit technologischer Innovationskraft. Im letzten Teil seines Forschungsprojekts für die Friedrich-Ebert-Stiftung hat sich das wiiw daher angesehen, wie die EU-CEE-Länder Innovations-Ökosysteme etablieren könnten, die es ihnen ermöglichen, technologisch und wirtschaftlich zu den globalen Spitzenreitern aufzuschließen. „Entscheidend wird dabei sein, die Spitzentechnologien von im Land tätigen ausländischen Konzernen – siehe Autoindustrie – für die heimischen Unternehmen nutzbar zu machen und technologische Spillover-Effekte zu generieren“, sagt Zuzana Zavarská und verweist auf die Erfolgsgeschichten Irland und Singapur, denen Ähnliches in der Vergangenheit gelungen sei.
Region hinkt bei Innovation hinterher
Dabei stehen die EU-Länder in Ostmitteleuropa vor kolossalen Herausforderungen. „Vor allem geben sie viel zu wenig Geld für Forschung und Entwicklung aus, was ihre Fähigkeit zur Innovation beeinträchtigt“, analysiert Zavarská. Zwar steigen die F&E-Ausgaben in der Region langsam an, insbesondere in Polen, Tschechien und Kroatien. Dennoch liegen alle Länder der Region weit unter dem offiziellen EU-Ziel von 3% der Wirtschaftsleistung für Forschung und Entwicklung. Nur Slowenien und Tschechien verzeichnen F&E-Ausgaben von über 2% des BIP, während die Slowakei, Bulgarien, Lettland und Rumänien unter 1% liegen. Obwohl sich einige Länder der Region durch den Export von Produkten auf mittlerem bis hohem Technologieniveau auszeichnen, sind diese zumeist das Resultat importierter Technologie durch die Präsenz ausländischer Konzerne im Land oder traditioneller Spezialisierungen.
Technologisches Know-how auf Spitzenniveau ist hauptsächlich innerhalb der großen multinationalen Unternehmen vorhanden, die in diesen Ländern Produktionsstandorte unterhalten. Forschung und Entwicklung finden aber weiterhin zumeist in den westeuropäischen Konzernzentralen statt. Damit können einheimische Firmen in Ostmitteleuropa, vor allem kleinere und mittlere, nicht von diesem Know-how profitieren.
Ein weiteres Problem ist das mangelhafte Bildungssystem. Obwohl die Region einen recht hohen Anteil an Absolventen und Absolventinnen in naturwissenschaftlichen Fächern aufweist, ist die Qualität der Ausbildung oft unzureichend und sind die Universitäten oft chronisch unterfinanziert. Auch bei grünen Technologien haben die EU-CEE-Länder noch großen Aufholbedarf. Besser sieht es zwar bei der Digitalisierung aus. So gibt es zahlreiche innovative Unternehmen, die auf digitale Technologien spezialisiert sind. Sehr oft handelt es sich dabei aber um isolierte Erfolgsgeschichten, die nicht in das Innovations-Ökosystem ihres Landes integriert sind.
Auf der politischen Ebene besteht trotz jüngster Fortschritte ein genereller Mangel an Koordination und finanzieller Unterstützung für Aktivitäten in den Bereichen Innovation sowie Forschung und Entwicklung. Außerdem nutzen die wenigsten ostmitteleuropäische EU-Mitglieder ihre Möglichkeiten im Rahmen der einschlägigen EU-Programme in vollem Umfang.
Irland und Singapur als Vorbilder
Was also tun? Die Studie ortet Irland und Singapur als Vorbilder für den Aufbau erfolgreicher Innovations-Ökosysteme. Ähnlich wie in den EU-CEE-Ländern heute, war auch ihr Wirtschaftswachstum noch vor einigen Jahrzehnten hauptsächlich von ausländischen Direktinvestitionen großer multinationaler Industriekonzerne getrieben, mit wenig bis gar keinen Innovationseffekten für die einheimische Wirtschaft. Irland und Singapur setzen daher seit geraumer Zeit darauf, nur jene ausländischen Investitionen anzuziehen, die zur eigenen Wirtschaftsstruktur und den heimischen Spezialisierungen passen (in Irland wird dieser Ansatz „Innovation by Invitation“ genannt). Zudem wurde systematisch und sehr fokussiert auf die Vernetzung der ausländischen Unternehmen mit einheimischen Firmen und Zulieferern gesetzt, um industrielle Cluster in aussichtsreichen Nischen entstehen zu lassen. In Irland entwickelte sich so eine international herausragende Mikroelektronikindustrie. Außerdem wurden Anreize geschaffen, um die bereits im Land tätigen ausländischen Konzerne dazu zu bringen, Forschung und Entwicklung verstärkt vor Ort durchzuführen und so mehr Wertschöpfung ins eigene Land zu holen.
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor waren dabei gut ausgebildete Fachkräfte. „Sowohl Irland als auch Singapur haben große Anstrengungen unternommen, um die Berufsausbildung und vor allem auch die universitäre Bildung in den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik möglichst praxisnah auf die Bedürfnisse der eigenen Wirtschaft auszurichten“ , erklärt Zavarská. Weitere Erfolgsfaktoren waren die massive staatliche Förderung von Forschung und Entwicklung über Zuschüsse, Subventionen und Steuererleichterungen, die Stärkung der naturwissenschaftlichen Forschung an Universitäten, die Schaffung staatlicher Forschungsförderungs-Agenturen, die Vernetzung von universitärer und kommerzieller Forschung, gute Rahmenbedingungen für Start-ups oder die erleichterte Zuwanderung von Hochqualifizierten aus dem Ausland.
Politikempfehlungen
Die Studie empfiehlt den ostmitteleuropäischen EU-Mitgliedern daher folgende Maßnahmen: Die Schaffung einer langfristig orientierten Innovationsstrategie und einer nationalen Agentur zur Koordinierung aller Innovationsbemühungen; die bessere Nutzung von EU-Fördertöpfen sowie mehr Geld auf nationaler Ebene für Forschung und Entwicklung; eine leistungsfähigere Verwaltung und bessere öffentliche Institutionen; die Förderung lokaler Zulieferer, gezielte Anreize für Forschung und Entwicklung und vor allem eine stärkere Vernetzung von heimischen Firmen mit ausländischen Konzernen zur Etablierung industrieller Cluster in vielversprechenden Bereichen; die gezielte Auswahl ausländischer Direktinvestitionen in Sektoren, die zu den eigenen industriellen Stärken passen und die Schaffung von Anreizen für ausländische Firmen, verstärkt vor Ort zu forschen. Empfohlen wird in diesem Zusammenhang, sich nicht mehr hauptsächlich auf steuerliche Anreize zur Steigerung der F&E-Ausgaben zu verlassen, sondern auch mehr Zuschüsse und auch staatliche Subventionen zu gewähren.
Darüber hinaus empfiehlt die Studie eine Stärkung von Universitäten und Forschungseinrichtungen und ihre Verzahnung mit der Industrie, etwa indem Förderungen für Firmen an die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Einrichtungen geknüpft werden. Die forcierte Ausbildung von hochqualifizierten Fachkräften in naturwissenschaftlichen Fächern, ihr erleichterter Zuzug aus dem Ausland sowie verbesserte Finanzierungsbedingungen für innovative Unternehmen werden ebenfalls angemahnt.
Die gesamte Studie steht hier zum Download zur Verfügung
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Pressekontakt:
Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw)
Mag. Andreas Knapp
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