Nur sechs afghanische Journalistinnen und Journalisten haben es bisher geschafft: Sie konnten mit Hilfe von Reporter ohne Grenzen (RSF) über das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan (BAP) nach Deutschland kommen. Zum dritten Jahrestag der Machtübernahme der Taliban zieht die Organisation in einem Bericht nun eine ernüchternde Bilanz des BAPs. RSF fordert darin vier Anpassungen, mit denen das Programm seinem humanitären Auftrag noch gerecht werden kann.
Eine, die davon profitieren würde, ist Nilab. Sie erinnert sich an den Tag im August 2021, der ihr Leben verändert hat. Die afghanische Journalistin war in der Redaktion, als sie hörte, dass die Taliban Kabul eingenommen hatten. „Wir alle waren entsetzt und wir wussten, dass dies das Ende für uns ist, insbesondere für die Frauen im Land.“ Nilab heißt in Wirklichkeit anders, aber aus Sicherheitsgründen bleibt sie anonym. Denn unter den Taliban ist sie gleich doppelt gefährdet: als Frau und als Journalistin. „Die Arbeit als Journalist, vor allem wenn man eine Frau ist, ist der riskanteste und gefährlichste Job, den man unter der Taliban-Herrschaft ausüben kann“, sagt Nilab. Sie wird bedroht und eingeschüchtert, die Taliban greifen sogar Familienmitglieder an.
Mit dem BAP könnte Nilab nach Deutschland kommen und wäre vor den Taliban sicher. Trotz der Verzögerungen und des langen Wartens beschreibt sie es als „bemerkenswertes Programm“, das vielen afghanischen Journalistinnen und Journalisten Hoffnung mache. Ein wichtiger Schritt ist auch schon geschafft: Die deutschen Behörden haben Nilab kontaktiert, um ihre eingereichten Dokumente zu prüfen. Aber ist die Hoffnung überhaupt noch berechtigt?
Diese Frage müssen sich nun zahlreiche Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan stellen. Im Haushaltsentwurf 2025 sind anscheinend keine Mittel mehr für das BAP eingeplant. Dem Programm droht das Aus. Das würde auch Personen betreffen, deren Fälle bereits eingereicht wurden: Medienschaffende, die eine Aufnahmezusage haben oder deren Dokumente geprüft werden, könnten schutzlos in Afghanistan zurückbleiben; Medienschaffende, die in Pakistan auf ein Sicherheitsinterview warten, könnten nach Afghanistan abgeschoben werden. Wie schon beim Sturz Kabuls vor drei Jahren hat die Bundesregierung offenbar keine Exit-Strategie. Insgesamt kamen mit dem BAP bisher lediglich 540 Personen nach Deutschland. Das entspricht einem Bruchteil der von der Regierung versprochenen 1000 Menschen, die pro Monat aufgenommen werden sollten.
Zum dritten Jahrestag der Machtübernahme der Taliban erinnert RSF an das Schicksal der Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan. An diejenigen, die vor Ort unter schwierigsten Bedingungen weiterarbeiten, bedroht oder festgenommen werden. Und an diejenigen, die Schutz im Exil suchen. RSF hat die Fälle von 62 Personen plus Familienmitgliedern im BAP eingereicht. Nur sechs von ihnen konnten bisher mit ihren Familien nach Deutschland reisen – obwohl alle die von der Bundesregierung selbst gesetzten Aufnahmekriterien erfüllen. In ihrem Bericht fordert die Organisation vier Anpassungen, um afghanischen Medienschaffenden noch zu helfen. Die Bundesregierung muss:
- Fälle und Visa schneller bearbeiten,
- das Personal für die Sicherheitsüberprüfung in Pakistan aufstocken,
- das Programm bis zum Ende der Legislaturperiode weiterfinanzieren,
- eine Exit-Strategie entwickeln.
„Seit die Taliban erneut die Macht übernommen haben, sind Journalistinnen und Journalisten der Willkür des Regimes ausgesetzt. Ein ungeordnetes Ende des Bundesaufnahmeprogramms würde tausende gefährdete Personen in Afghanistan endgültig ihrem Schicksal überlassen“, sagt RSF-Geschäftsführerin Anja Osterhaus. „Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag vereinbart, besonders gefährdeten Afghaninnen und Afghanen zu helfen. Ministerinnen Faeser und Baerbock haben versprochen, monatlich ca. 1000 Personen aufzunehmen. Sie müssen jetzt die nötigen Weichen stellen, um in der verbleibenden Laufzeit noch möglichst vielen Medienschaffenden eine Ausreise zu ermöglichen. Die Lösungen liegen auf der Hand, entscheidend ist nur eins: der politische Wille, das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen.“
Enttäuschte Hoffnungen
Das im Oktober 2022 angelaufene Bundesaufnahmeprogramm war ein Hoffnungsschimmer für Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan. Doch die eigentlich begrüßenswerte Initiative hat ihr Mandat deutlich verfehlt. Die von der Bundesregierung öffentlich kommunizierten Zahlen der Aufnahmezusagen rechnen die Aufnahmen verschiedener Programme zusammen und verschleiern damit die ernüchternde Bilanz.
Unter dem BAP sollten monatlich 1.000 gefährdete Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland kommen. Bis Ende Juli 2024 wären das rund 21.000 Personen gewesen, bis zum Ende der Legislaturperiode 36.000. Eine Aufnahme wurde bislang aber nur 3.071 Personen versprochen, von denen nur 540 tatsächlich eingereist sind (Stand 12. Juli 2024). Es ist derzeit unklar, ob die 2.531 weiteren Personen mit Aufnahmezusage noch nach Deutschland kommen können. Wie der gesamte Prozess aussieht, den Betroffene im Programm durchlaufen, erklärt RSF in dieser Grafik.
Die deutschen Behörden kommunizieren nicht öffentlich, wie viele Personen sie bereits ausgewählt haben und sich in der Prüfung für eine formelle Aufnahmezusage befinden. RSF geht davon aus, dass es mittlerweile hunderte Fälle plus Familienangehörige sind. Die Organisation fordert die Behörden auf, den Rückstand schnell abzuarbeiten, damit die Personen nach Pakistan reisen und dort das Sicherheitsverfahren durchlaufen können.
Auch dieses muss aus Sicht von RSF beschleunigt werden. Das Prozedere für Afghaninnen und Afghanen unterscheidet sich deutlich von den Sicherheitsverfahren für gefährdete Personen, die Schutz vor Regimen etwa in Russland oder dem Iran suchen. Auch hier gibt es Prüfungen und Kontrollen, aber sie sind aus Sicht von RSF nachvollziehbar und erfüllbar.
RSF fungiert als eine der meldeberechtigten Stellen, an die sich gefährdete Afghaninnen und Afghanen wenden können, um im Bundesaufnahmeprogramm berücksichtigt zu werden. Die Organisation hat bis Ende Juli 62 Fälle von Journalistinnen und Journalisten und 222 Familienmitgliedern eingereicht. RSF hat sich über Monate intensiv mit ihrer Gefährdung beschäftigt, Dokumente zusammengetragen und die journalistische Arbeit verifiziert. Sie müssen dringend das Land verlassen. Doch nur in 29 Fällen wurden die Hauptpersonen von den deutschen Behörden kontaktiert oder haben bereits eine Aufnahmezusage erhalten. Ob sie noch nach Deutschland kommen, ist derzeit ungewiss. Diese Ungewissheit ist für viele Betroffene zermürbend. RSF wird sich weiter für sie einsetzen.
Einer, der es nach Deutschland geschafft hat, ist der Journalist Hamed. Er heißt eigentlich anders, möchte seinen echten Namen aber nicht in den Medien nennen, um die Familienmitglieder zu schützen, die noch in Afghanistan sind. RSF hatte seinen Fall im vergangenen Jahr im Bundesaufnahmeprogramm eingereicht. Unter den Taliban wurde er bedroht, festgenommen und misshandelt. Er musste sich verpflichten, nicht mehr kritisch über sie zu berichten. Inzwischen lebt Hamed mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern in einer deutschen Großstadt. „Meine Kinder gehen zur Schule. Ich selbst bin damit beschäftigt, die Sprache zu lernen“, sagt er. Seit 17 Jahren arbeite er im Journalismus. „Ich möchte in einem Medium in Deutschland arbeiten und diesem Land als Journalist dienen.“
Auf der Rangliste der Pressefreiheit ist Afghanistan um 26 Plätze gefallen und steht inzwischen auf Platz 178 von 180 Staaten. Mehr zur Situation für Journalistinnen und Journalisten vor Ort finden Sie unter www.reporter-ohne-grenzen.de/afghanistan.
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