OFFENER BRIEF „WIR SIND VIELE!“
Sehr geehrte Medienvertreterinnen und -vertreter,
sehr geehrte Politikerinnen und Politiker,
liebe Leserinnen und Leser,
wir, über einhundert Familien mit Angehörigen mit komplexen Mehrfachbehinderungen, wenden uns an Sie, um sowohl auf strukturelle Missstände in der Versorgung und Betreuung unserer Angehörigen aufmerksam zu machen, als auch mit der Bitte um mehr Sichtbarkeit, Gehör und gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft.
Ausgangslage:
Menschen mit komplexen Mehrfachbehinderungen haben in der Regel nicht nur starke körperliche, sondern auch geistige Beeinträchtigungen, oft zusätzlich Sinneseinschränkungen und chronische Erkrankungen. Aufgrund dessen ist ihre Bewegungsmöglichkeit reduziert bis hin zu Gehunfähigkeit, ebenso sind Sprach- und Lernfähigkeit oft vermindert, hinzu kommen Diagnosen wie Epilepise oder Autismus. Sie benötigen daher umfassende Unterstützung im Alltag.
Um ihre Interessen zu vertreten sind Menschen mit komplexer Behinderung auf ihre Eltern und Angehörigen oder andere Fürsprecher angewiesen. Oftmals ist die Betreuung und Pflege dieser Menschen mit extremen körperlichen und psychischen Belastungen verbunden, sodass den Eltern kaum Kraft bleibt, um auf Missstände hinzuweisen und dringend benötigte Hilfe einzufordern. Selbst wenn dies gelingt, stoßen die Familien auf eine Vielzahl von bürokratischen Hürden und Hindernissen, die dringend benötigte Unterstützungsleistungen unerreichbar machen. Insbesondere nach dem Ende der 12-jährigen Schulpflicht verschärft sich die Situation noch einmal. Menschen mit komplexer Behinderung wird das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben nicht zuerkannt, da ihnen abgesprochen wird, ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen zu können. In der Folge haben sie keinen Zugang zu Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Da das Angebot an sogenannten Förderstätten für Erwachsene mit komplexer Behinderung jedoch bei weitem nicht den Bedarf deckt, müssen viele Familien häufig von einem auf den anderen Tag Ihre volljährigen Kinder rund um die Uhr zu Hause betreuen und können selbst ihrer Berufstätigkeit nicht mehr nachgehen.
Nach Jahrzehnten der Betreuung kommen viele Familien an die Grenzen ihrer Kräfte. Doch auch Wohneinrichtungen in zumutbarer Nähe, die auf diesen Personenkreis ausgerichtet sind, haben unendlich lange Wartelisten. Meist wird nur dann ein Platz frei, wenn ein Bewohner verstirbt.
Darüber hinaus wird das Schlagwort „Fachkräftemangel“ der tatsächlichen Situation im Bereich der Behindertenhilfe nicht mehr gerecht. Laut der gemeinsamen Aussage von sozialen Trägern im Raum München muss man stattdessen von Fachkräftenotstand sprechen, da die Personaldecke der Träger oft nicht mehr ausreicht, um eine menschenwürdige Förderung und Versorgung der Klienten zu gewährleisten.
Die sich zunehmend verschärfende Situation für Menschen mit komplexer Behinderung und ihre Familien zwingt uns dazu gemeinsam an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir fordern Politik und Gesellschaft auf, sich aktiv für uns einzusetzen und eine Verbesserung der Versorgung zu bewirken. Menschen mit komplexer Behinderung und ihre Familien haben die gleichen Rechte auf diskriminierungsfreie Teilhabe am Leben wie alle anderen Menschen auch!
Unsere Forderungen:
- Mehr Sichtbarkeit und Gehör für Menschen mit komplexen Mehrfachbehinderungen im Alltag, in der Politik und den Medien.
- Ein Recht auf Förderstätten- und Wohnplätze für junge Erwachsene mit Komplexer Behinderung, dass ihnen Teilhabe an Arbeit und am Leben in der Gesellschaft ermöglicht
- Deutlicher Ausbau an adäquaten Wohnplätzen, auch für Menschen mit Behinderung im Rentenalter.
- Berücksichtigung der Situation der ganzen Familie, nicht nur des Bedarfs des Kindes oder Angehörigen mit Behinderung.
- Attraktivere Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen für Heilerziehungspflegende und andere Berufsgruppen, die in der Behindertenhilfe tätig sind. Abbau bürokratischer Hürden für Menschen mit ausländischen Abschlüssen und Qualifizierungsprogramme für Quereinsteiger. Mehr Kampagnen für diese Berufe!
Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie unsere Anliegen aufgreifen und über uns und unsere Aktion berichten., Das beiliegende Gruppenfoto ist frei von Rechten Dritter und unter dem Credit ©Florian Jaenicke honorarfrei zum Druck freigegeben. Darauf zu sehen sind 96 Familien mit Angehörigen mit komplexen Mehrfachbehinderungen, insgesamt 254 Personen.
Verantwortlich für den Inhalt: Florian Jaenicke, Fotograf und Mitglied des Vorstands Helfende Hände eV, Reichenaustrasse 2, 81243 München, mail@florianjaenicke.de
Wir danken der Aktion Mensch, dem Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bvkm) und dem Landesverband Bayern für körper- und mehrfachbehinderte Menschen, dem Ambulanten Kinderhospiz München, dem Verein Helfende Hände zur Förderung und Betreuung mehrfachbehinderter Kinder und Erwachsener, dem Blindeninstitut München und der Lebenshilfe München, und dem Referat Arbeit und Wirtschaft der Stadt München sowie allen Familien für die Unterstützung bei der Fotoaktion „WIR SIND VIELE!“, die am Europäischen Protesttag der Aktion Mensch für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 5. Mai. 2024 auf der Theresienwiese in München stattgefunden hat.
Pressekontakt:
Florian Jaenicke, Fotograf und Mitglied des Vorstands Helfende Hände eV, Reichenaustrasse 2, 81243 München, mail@florianjaenicke.de