Es mangelt Deutschland wahrlich nicht an Erkenntnissen. Die sogenannten Wirtschaftsweisen bilden den Sachverständigenrat und beraten die Bundesregierung. Diese fünf führenden Ökonomen haben gleich zweimal im Jahr die Gelegenheit, darzulegen, was in der deutschen Wirtschaft schiefläuft. Der Kanzler oder die Kanzlerin nimmt den Jahresbericht entgegen, schüttelt Hände, lobt das Engagement der Wirtschaftsforscher für ihre mehrere Hundert Seiten lange Arbeit. Über einzelne Passagen regen sich manche mehr, manche weniger auf, und dann landet das dicke Druckerzeugnis in einer Schublade.
Hätte man in den vergangenen Jahren auf die Wissenschaftler gehört, würde Deutschland vielleicht in diesem Jahr nicht das Schlusslicht der großen Industrienationen beim Wachstum sein. Vor zehn Jahren machten die Ökonomen beispielsweise auf die Defizite der Schuldenbremse aufmerksam und forderten, deren Konstruktion „grundlegend zu überdenken“. Vor sechs Jahren wiesen die Ökonomen auf die sich zuspitzende Situation auf dem Wohnungsmarkt hin. Als SPD, Grüne und FDP 2021 sondierten, gaben die Wirtschaftsweisen Vorschläge mit, wie die Transformation gestaltet werden könne. Im vergangenen Jahr wurden sie besonders unbequem, mahnten Reformen der Rente an. Nur passiert ist wenig.
Die Ampelkoalition hätte eine Chance sein können, das zu ändern. In manchen Bereichen, etwa bei der Rente, trauten sie sich nach vorne. Und doch standen am Ende drei Konzepte mit gänzlich verschiedenen Vorstellungen, wie Deutschland modernisiert werden könnte. Subventionen aufseiten der SPD, eine schuldenbasierte Investitionspolitik aufseiten der Grünen und Steuersenkungen und ein Zurückfahren des Sozialstaats aufseiten der FDP – drei Konzepte, drei wirtschaftstheoretische Denkschulen. Aber keine Übereinkunft.
Man kann in vielen Punkten anderer Meinung als der geschasste Ex-Finanzminister Christian Lindner (FDP) sein. In einem aber hat er recht: Es war das Geld, das die Ampel zusammengehalten hatte. Als das Bundesverfassungsgericht im vergangenen Jahr den Haushalt kassiert und sich ein 60 Milliarden Euro tiefes Loch aufgetan hatte, war es der Anfang vom Ende der selbst ernannten Fortschrittskoalition. Das passt zum Bild der vergangenen Jahre, unabhängig von der Regierungs-Couleur. Strukturreformen werden verschleppt, Probleme oberflächlich mit Geld überdeckt. Bis zum Wahltag sind es noch rund 100 Tage. Auch wenn es zu früh und respektlos gegenüber dem Wähler ist, schon vor der Wahl den künftigen Kanzler auszurufen, so sprechen die Umfragen doch eine deutliche Sprache. Drehen sie sich nicht maßgeblich, dann wird das nächste Regierungsbündnis ebenfalls kein einfaches werden, unabhängig ob es nun eine Wiederauflage der großen Koalition, Schwarz-Grün, eine Deutschlandkoalition oder eine ganz andere Konstellation werden wird.
Auf den künftigen Kanzler kommt die Aufgabe zu, nicht nur den kleinstmöglichen Nenner zu suchen, sondern den Mut zu richtungsweisenden Reformen zu finden. Selbst bei einer notwendigen Überarbeitung der Schuldenbremse, um etwa Deutschlands marode Infrastruktur wieder fit machen zu können, wird der finanzielle Spielraum begrenzt sein. Es wird zu Priorisierungen kommen müssen, für manche auch zu Zumutungen. Die Lage aber ist zu ernst für ein „Weiter so“. Die deutsche Wirtschaft braucht einen Zukunftsplan.
Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Telefon: 030/887277 – 878
bmcvd@morgenpost.de