Das Verhalten von Menschen, auch von Führungskräften und Managern, ist in vielen Unternehmen die primäre Ursache für Unfälle – technische, organisatorische und personenbezogene Schutzmaßnahmen allein können diese Herausforderung nicht lösen. Abhilfe schafft hierbei hingegen eine lernende Organisation: Was aber hat es damit auf sich und worauf kommt es dabei in der Praxis an?
Noch vor wenigen Jahren konzentrierten sich die meisten Unternehmen fast ausschließlich auf technische, organisatorische und personenbezogene Schutzmaßnahmen. Obwohl diese Ansätze Erfolge zeigten, stießen sie letzten Endes nachweislich an ihre Grenzen. Ein Blick auf die häufigsten Unfallursachen der letzten Jahre verdeutlicht, dass Stolpern, Rutschen, Stürzen sowie unsachgemäße Bedienung von Werkzeugen und Maschinen oder falsches Heben, Tragen und Lagern von Gegenständen zu den größten Problemen vieler Unternehmen zählen. „Diese Unfälle sind das Ergebnis menschlicher Entscheidungen und Handlungen auf allen Ebenen im Unternehmen – vom Management bis zum Mitarbeiter an der Maschine“, betont Stefan Ganzke von der WandelWerker Consulting GmbH.
„In den letzten Jahren ist jedoch ein deutlicher Paradigmenwechsel bei einigen Unternehmen im Arbeitsschutz erkennbar. Der Fokus verlagert sich zunehmend weg vom ausschließlich traditionellen TOP-Prinzip hin zu einer stärkeren Ausrichtung auf die Organisation und den Menschen“, fügt Anna Ganzke hinzu. Auch in den Medien wird dieser Trend sichtbar: Begriffe wie „lernende Organisation“, „offene Fehlerkultur“ und „psychologische Sicherheit“ treten immer häufiger in den Vordergrund. Doch vielen Unternehmen fehlt es noch immer an der nötigen Hilfestellung und konkreten Ansätzen, wie sie den Übergang zu einer selbstlernenden Organisation gestalten und damit Arbeitsunfälle und unsichere Situationen nachhaltig verringern können. Auf welche drei Aspekte es dabei im Besonderen ankommt, verraten die Sicherheitskultur-Experten Stefan Ganzke und Anna Ganzke im Folgenden.
1. Systemisches Denken
Wird in einem Unternehmen ausschließlich auf der operativen Ebene gearbeitet und fehlt der Gesamtüberblick über Prozesse und Strukturen, wird es schwierig, Arbeitsunfälle und unsichere Situationen nachhaltig zu reduzieren. Erst eine ganzheitliche Betrachtung ermöglicht es, Produktivität, Qualität und Sicherheit zu vereinen. Um dies zu erreichen, bedarf es eines systemischen Verständnisses der vorhandenen Muster, Beziehungen und deren Wechselwirkungen mit anderen Bereichen.
Der Einsatz systemischer Methoden erweist sich hierbei als unverzichtbares Kernelement für eine lernende Organisation und eine gelebte Arbeitsschutzorganisation. Doch wie lassen sich diese wertvollen Erkenntnisse gewinnen? Sicherlich nicht allein hinter verschlossenen Türen oder durch theoretische Entscheidungen am grünen Tisch. Insbesondere im Kontext des Arbeitsschutzes spielen systemische Fragestellungen eine zentrale Rolle, da sie die Mitarbeiter aktiv einbinden und deren Perspektiven einfließen lassen.
Systemische Fragetechniken finden beispielsweise bei Sicherheitsbegehungen Anwendung. Dabei geht es explizit nicht um die Begehungen, bei denen Führungskräfte im Verbund durch die Produktion gehen und den Mitarbeitern über die Schulter schauen: Derartige Vorgehensweisen sind eher hinderlich für den Arbeitsschutz, da sich die Beschäftigten in solchen Momenten nur selten natürlich verhalten. Häufig berichten sie sogar von Verunsicherung und scheuen sich, offen über die tatsächlichen Arbeitsbedingungen zu sprechen. Aus diesem Grund sollten solche Begehungen möglichst auf ein bis zwei Personen beschränkt sein, die gezielt mit systemischen Fragestellungen arbeiten.
Der Vorteil dieser systemischen Fragen liegt darin, dass sie nicht mit einem einfachen „Ja“, „Nein“ oder „Geht nicht“ beantwortet werden können. Vielmehr regen sie die Mitarbeiter zum Nachdenken an und fördern so neue Perspektiven sowie ein tieferes Verständnis. Auf diese Weise lassen sich sicherere Arbeitsprozesse und -plätze entwickeln.
2. Lernen im Team
In einigen Unternehmen mangelt es heute noch an einer angemessenen Einstellung zum Arbeitsschutz – es fehlt sowohl das richtige Safety Mindset als auch die notwendige Befähigung. Dabei ist das Lernen in Teams ein zentraler Motor für die persönliche und fachliche Weiterentwicklung und damit die Lösung für diese Problematik: So befähigt es Führungskräfte und Mitarbeiter gleichermaßen dazu, Probleme frühzeitig zu erkennen, den Lösungsprozess aktiv zu begleiten und die Entscheidungsfindung zu erleichtern.
Ein Beispiel für die Kraft eines lernenden Teams ist ein Safety Leadership Training für Führungskräfte, das weit über die Vermittlung persönlicher Verantwortung und Haftung im Arbeitsschutz hinausgeht. Dabei zeigt die Erfahrung, dass ein solches Training besonders erfolgreich ist, wenn es über mehrere Monate hinweg angelegt wird. In dieser Zeit muss auf die vielfältigen Aufgabenstellungen der Führungskräfte eingegangen werden. Es genügt schließlich nicht, sich auf ein einzelnes Tätigkeitsfeld wie die Begehung oder Unterweisung zu konzentrieren. Vielmehr bedarf es einer ausgewogenen Kombination aus der Förderung des Safety Mindsets und der Befähigung zur praktischen Umsetzung von Arbeitsschutzmaßnahmen.
Eine weitere elementare Maßnahme, um die Möglichkeiten einer lernenden Organisation zu nutzen, sind Arbeitsschutzgremien. In diesen ständigen oder flexibel genutzten Gremien entwickeln Vertreter von allen Hierarchieebenen im Unternehmen Lösungen. Unabhängig davon, ob es sich um die Neubeschaffung von Maschinen, die Auswahl von Sicherheitsschuhen oder Prozessen zum Fremdfirmenmanagement handelt. Durch die gemeinsame Arbeit entstehen Prozesse, die in der betrieblichen Praxis wirklich funktionieren, Maschinen, die sicher und weniger anfällig für Störungen sind oder persönliche Schutzausrüstung, die auch wirklich genutzt wird.
3. Offene Fehlerkultur
Fehler sind alltäglich – jeder Mensch macht drei bis fünf Fehler pro Stunde. Es können daher nicht zu 100 Prozent alle unsicheren Entscheidungen und Handlungen vermieden werden. Umso entscheidender ist die richtige Reaktion auf Fehler: Schuldzuweisungen sollten in Unternehmen unbedingt vermieden werden. Stattdessen ist ein offener und zielgerichteter Umgang erforderlich, um Wiederholungen zu verhindern.
In der betrieblichen Praxis stellt allerdings genau das eine große Herausforderung dar. Eine wesentliche Ursache hierfür sind Unternehmenskulturen, in denen Ermahnungen, Abmahnungen und Kündigungen als das beste Mittel zur „Erziehung“ von Mitarbeitern betrachtet werden. Tatsächlich führt eine solche Vorgehensweise aber lediglich zu Verunsicherung, Ängsten und einer schlechten Fehlerkultur. Deshalb ist es notwendig, dass Management und Führungskräfte ein klares Commitment abgeben: Ein offener Umgang mit Fehlern muss gefördert und Meldungen von Fehlern sollten positiv aufgenommen werden. Hier können beispielsweise produzierende und produktionsnahe Unternehmen wertvolle Lehren aus der Luftfahrtbranche ziehen.
Nach einem Arbeitsunfall oder einer unsicheren Situation sollten nicht vorschnell Mitarbeiterfehler als Ursache genannt und Unterweisungen als Maßnahme ergriffen werden. In den meisten Fällen sind es schließlich nicht nur die Mitarbeiter, die mit ihrem Handeln einen Arbeitsunfall oder eine unsichere Situation verursachen. Oftmals spielen Entscheidungen des Managements oder der Führungskräfte eine entscheidende Rolle – sei es durch unsichere Prozesse oder die unzureichende Gestaltung von Arbeitsplätzen.
Neben einer gezielten Analyse von Fehlern in einer angemessenen Gruppe von Beteiligten ist auch die Kommunikation innerhalb der Organisation von großer Bedeutung, um Wiederholungen in anderen Bereichen zu vermeiden. Hierfür eignen sich beispielsweise kurze Ereignisreports, die den Unfallhergang, die Ursachen und die daraus abgeleiteten Maßnahmen prägnant zusammenfassen.
Fazit: Mit der richtigen Grundlage gelingt die Implementierung in allen Unternehmen – und lohnt sich in jedem Fall
Damit ein echter Lernprozess in Gang gesetzt werden kann, bedarf es eines hohen Maßes an psychologischer Sicherheit für alle Mitarbeiter. Der Begriff „psychologische Sicherheit“ beschreibt dabei das Vertrauen darauf, dass die Arbeitsumgebung stabil genug ist, um Bedenken gegenüber dem Status quo offen äußern zu können. Je größer dieses Vertrauen innerhalb der Belegschaft ist, desto häufiger hinterfragen die Mitarbeiter sowohl sich selbst als auch bestehende Strukturen kritisch.
Ein kultureller Wandel hin zu einer lernenden Organisation erfordert jedoch nicht nur Überzeugung, sondern auch die Bereitstellung von finanziellen und vor allem zeitlichen Ressourcen. Demnach wird mehr Zeit für Beteiligung, Selbstreflexion und den kontinuierlichen Veränderungsprozess benötigt. In diesem Kontext lässt sich der „Return on Prevention“ als Argument anführen: Laut einer Umfrage der DGUV liegt dieser Faktor bei 2,2 – für jeden investierten Euro fließen also 2,20 Euro auf verschiedenen Wegen in die Kasse des Unternehmens zurück.
Zweifellos sind die Herausforderungen, die mit dem Übergang von einer konventionellen Struktur zu einer lernenden Organisation einhergehen, nicht zu unterschätzen. Der Weg mag steinig sein, doch am Ende lohnt sich dieser Einsatz: Nicht nur der Arbeitsschutz verbessert sich kontinuierlich und nachhaltig, sondern auch die Produktivität und Qualität des Unternehmens steigen.
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